Lerne Abdul Mohammed Ali kennen
Von:
Pamela Kerpius
Aufgenommen am
21. Juni 2021
Veröffentlicht am
16. September 2021
Übersetzung von: Ina Correll
Lerne Abdul Mohammed Ali kennen.
Abdul kommt aus Mogadischu, Somalia. Um die Niederlande zu erreichen musste er vier Länder durchqueren: Somalia, Saudi Arabien, Frankreich und Belgien.
Abdul war vier Monate alt als er Somalia 1995 verließ. Mit seiner Familie flog er nach Saudi Arabien, wo er bis zu seinem dreizehnten Lebensjahr lebte. Er beendete seine Schulpflicht mit zwölf Jahren und arbeitete für ungefähr ein Jahr im Laden seiner Familie. Um seine Schulbildung weiterführen zu können musste er das Schulsystem in Saudi Arabien verlassen.
Sein Vater kannte einen Schlepper der Abdul nach Europa bringen konnte und zahlte ihm eine unbekannte Summe (Abdul vermutet mehrere tausend Euro) dafür ihn nach Paris, Frankreich zu schleusen. Im November 2009 verließ Abdul den Mittleren Osten und durchquerte Europa per Flugzeug. Er benutzte den Reisepaß des Sohnes seines Schleppers.
Er lebte alleine mit seinem Schlepper. Seine Eltern hatten versprochen nach Europa nachzukommen. Zuerst dachte er, dass er sie nach einer Woche wiedersehen würde, dann nach einem Monat, aber nichts geschah.
„Als ich hier ankam war es wie in einer völlig neuen Welt”, sagte Abdul.
Er landete in Paris, Frankreich und zog dann nach Straßburg, wo er für drei Jahre lebte. Sein Schlepper sollte ihm mit seinem Asylantrag helfen, letztendlich aber war Abdul auf sich alleine gestellt. Da er ein dreizehn Jahre alt war, ein Minderjähriger, konnte er kein Asyl für sich selbst beantragen.
Abdul konnte die Schule nicht besuchen. Manchmal war es ihm sogar nicht erlaubt das Haus zu verlassen. Das Risiko, dass er von der Polizei verhaftet werden konnte war zu groß für den Schlepper, der Abdul bei sich zuhause hatte. Als er 16 Jahre alt war hatte Abdul schließlich genug. Er wollte sein eigenes Leben führen, und er wollte eine Ausbildung. Er und der Schlepper hatten eine Auseinandersetzung.
Der Mann fuhr ihn mit dem Auto in die Niederlande, gab ihm 20 Euro am Bahnhof in Tilburg und sagte zu ihm: „geh und kümmere dich um dich selbst. Geh und bau dir ein Leben auf.” Plötzlich war Abdul ganz alleine in einem neuen, unbekannten Land, in dem er keine der zwei Landessprachen, weder Niederländisch noch Englisch sprach. Er war gerade 17 Jahre alt.
In Frankreich hatte Abdul begonnen Englisch zu lernen, aber er sprach wirklich nur französisch und arabisch. Er traf eine Frau die französisch sprach und ihn am nächsten Tag zu einer Polizeistation brachte. Dort beantragte er Asyl. Sie nahmen seine Fingerabdrücke und er saß in einem verglasten Raum während sein Asylantrag bearbeitet wurde. Er verbrachte zwei Tage dort, zusammen mit Afghanen und anderen Somaliern.
„In dieser kurzen Zeit habe ich mehr erlebt als während der drei Jahre in Frankreich”, sagt Abdul.
Er begab sich auf eine dreistündige Zugfahrt nach Ter Apel, wo alle neuen Immigrationsanträge in den Niederlanden bearbeitet werden. Dort traf er auf eine buntgemischte Gruppe von erwachsenen und jugendlichen Migranten. Abdul blieb nur einen halben Tag in Ter Apel, dann wurde er nach Wageningen weitergeschickt, zu einem Wohnheim für minderjährige Asylbewerber. Im Wohnheim lebten Erwachsene im oberen Stockwerk und Jugendliche im Erdgeschoss. Er teilte sich ein Zimmer mit drei weiteren Asylbewerbern, einschließlich einem Somalier mit dem er zusammen nach Wageningen gekommen war, der aber sonst ganz andere Interessen als Abdul hatte. Abdul blieb in diesem Wohnheim insgesamt drei Monate.
Seine Familie versuchte ständig mit seinem Schlepper Kontakt aufzunehmen. Schließlich blockte der Mann die Telefonnummer seines Vaters. Abuls Eltern ermahnten ihn stark zu sein und durchzuhalten, aber das machte ihn wütend, denn er war gerade 17 Jahre alt und es war schwer alles alleine durchzustehen.
Abdul hatte Interviews mit Sachbearbeitern der niederländischen Immigrationsbehörde. Auch sie konnten seinen Schlepper nicht auffinden, aber nach drei Monaten gaben sie ihm eine fünfjährige Aufenthaltserlaubnis für die Niederlande. Nun war es endlich möglich für ihn zur Schule zu gehen und zu arbeiten. Abdul zog in ein neues Wohnheim in Leeuwarden. Er lebte dort mit 20 weiteren Asylbewerbern, jeweils zwei pro Zimmer. Abdul blieb in Leeuwarden für neun Monate, bis kurz vor seinem achtzehnten Geburtstag.
Als er Leeuwarden verließ gab der Staat ihm 1200 Euro, damit er sich ein Leben aufbauen konnte. Abdul zog in eine Wohngemeinschaft mit Freunden. Dort hatte er zum ersten Mal sein eigenes Zimmer. Das Wohnhaus war ein Neubau, der sogar einen Garten hatte. Er sagte, dass viele seiner Bekannten unter PTSD leiden. Es war schwer für ihn sich sein Leben ganz alleine aufzubauen, aber er ist dankbar, dass er in den Niederlanden ist.
Jahre später verlor er seinen Arbeitsplatz in einem Restaurant und dann sein Zuhause. Seine Aufenthaltsgenehmigung lief ab. Nach fünf Jahren hätte er Anspruch auf einen Reisepass gehabt, aber ohne Kontaktadresse, konnte er diesen nicht beantragen.
Abduls Familie kehrte in 2014 wieder nach Somalia zurück, als ihr Neuantrag auf eine Aufenthaltsgenehmigung von Saudi Arabien abgelehnt wurde. Nach ihrer Rückkehr wurde sein Bruder dort ins Herz geschossen und getötet. Abdul erklärt, dass jeder in Somalia Waffen trägt.
Im Sommer 2020 machte sich Abdul wieder auf den Weg nach Ter Apel, um erneut einen Asylantrag zu stellen. Er mußte den Prozess von Neuem anfangen, weil seine Papiere abgelaufen waren. Verzögerungen aufgrund des Coronavirus verlangsamten den Prozess noch mehr, so dass der Asylprozess sechs Monate länger dauerte.
Als unsere Unterhaltung ein wenig vom Thema abschweift fragt Abdul, ob wir die Filme Der Seltsame Fall des Benjamin Button und Das Streben nach Glück kennen, denn das sind seine Lieblingsfilme. Abdul ist jetzt 26 Jahre alt und lebt in Middelburg, in der Niederlande, wo er uns seine Geschichte am 21. Juni 2021 erzählt hat.
Abdul ist ein bemerkenswerter Mensch.
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