Lerne Khalid kennen
Von:
Pamela Kerpius
Aufgenommen am:
13. Mai 2022
+ 3. März 2023
Veröffentlicht am: 17. April 2023
Übersetzung von:
Bren Anderson
Miya DeCaro
Richard Kesterton
Cornelius Partsch
Brigitte Schnell
Translation done in collaboration with:
Lerne Khalid kennen
25 Jahre alt und aus Idlib, Syrien.
Um Europa zu erreichen, durchquerte er sechs Länder: Syrien, den Libanon, Weißrussland, Polen, Deutschland und die Niederlande.
Er zog von Idlib im Nordwesten in die Hauptstadt Damaskus um, wo er mit seiner Familie zehn Jahre lebte, bevor er dann endgültig das Land verließ.
Am 31. Dezember 2012 stieg er in einen Bus nach Bcharré, einer Stadt im Norden des Libanon, wo sein Vater gelebt hatte. Davor hatte sein Vater als TV-Produzent in Damaskus gearbeitet, aber er wurde entlassen, weil er regimekritische Berichte sendete. Die Situation wurde lebensgefährlich für ihn und er flüchtete in den Libanon. Bis heute ist er in den Augen des Regimes ein Verbrecher, und das bekam auch Khalid zu spüren. Um über die Grenze zu kommen, musste er ein Bestechungsgeld in Höhe von 700 US-Dollar aufbringen. Er bezahlte diesen Preis und reiste in den Libanon ein. Nach der achtstündigen Busfahrt nach Bcharré gab es ein freudiges Wiedersehen mit seinem Vater, den er ein ganzes Jahr nicht gesehen hatte.
Aber das Leben war dennoch bittersüß. “Man ist bei jemandem, den man liebt, aber man lässt noch mehr zurück”, sagte Khalid, da der Rest seiner Familie noch in Syrien war: seine Mutter und seine Geschwister.
Er blieb über fünf Jahre in Bcharré und erfuhr dort eine scharfe Diskriminierung durch die herrschende Einstellung der Einheimischen gegenüber den syrischen Migranten, erzählte er. Dies sei ein Erbe des syrisch-libanesischen Krieges der achtziger Jahren und sei jetzt in allen Institutionen verankert. In dieser Zeit begann er, regelmäßig im Anzug aufzutreten. Dies war sein schweigender, würdevoller Protest, der zur Gewohnheit wurde, gegen die erniedrigende, fremdenfeindliche Atmosphäre, die ihn über Jahre begleiten sollte.
In Bcharré wurde er fast tagtäglich ungerecht behandelt. Es wurde eine Sperrstunde für Syrer verhängt, Nach 18 Uhr durften sie nicht mehr aus dem Hause gehen. Khalid erzählte, dass man ihn verprügelt hätte, wenn man ihn nach 18 Uhr auf der Straße erwischt hätte, selbst wenn er nur schnell eine Erledigung machen musste. Außerdem gab es an öffentlichen Toiletten und Geschäften Schilder mit der Aufschrift “Keine Syrer erlaubt.” Ihm war auch der Zugang zum Strand verboten. Dort hingen Schilder mit der Aufschrift “Keine Hunde. Keine Syrer.”
Er hatte das Gefühl, dass er im Stillstand war, da er aufgrund seiner Nationalität nicht einmal seine Ausbildung beenden durfte. Er durfte auch keine Beziehung mit einer der einheimischen Frauen eingehen. Allerdings verstieß er gegen dieses Verbot. Er verliebte sich. Er war jung, erst 18, und seine Freundin, die ein paar Jahre jünger war, traf sich heimlich mit ihm. Es war eine äußerst riskante Situation, beide brachten sich damit in Gefahr.
Schließlich flog diese riskante Liebschaft auf und endete so. Als der Bruder von Khalids Freundin davon erfuhr, rief er einige Freunde zusammen, und sie schlugen ihn so schonungslos, dass er ein paar Zähne verlor und eine schwere Verletzung am Arm erlitt. “Ich musste dort weg", sagte er. Er hat nie wieder etwas von dieser Frau, seiner ersten großen Liebe, gehört.
Im Juni 2017 fuhr er in die Hauptstadt Beirut, eine große, internationale Stadt, wo er sich mehr Weltoffenheit und mehr Möglichkeiten versprach. Es dauerte drei Stunden mit dem Bus, er hatte nur ein Gepäckstück dabei. Ein Freund ließ ihn bei sich übernachten und fand ihm einen Job als Kellner in einem Restaurant in der Nähe. Er blieb vier Jahre in Beirut und zog viel herum. Und obwohl sich die Stadt nie als echtes Zuhause entpuppte, entdeckte er dort seine Liebe für die Schauspielerei, als er 2019 die Gelegenheit bekam, elf Monate an einem EU-finanzierten Theater zu arbeiten. Vorher hatte Khalid einen YouTube-Kanal gehabt und dort ein paar Aufführungen vorgestellt, aber er verstand erst durch die regelmäßige Arbeit im Theater, dass er wirklich als Schauspieler eine politische Perspektive zeigen konnte.
“Ich kämpfte gegen Rassismus durch das Theater", sagte er über die Zeit bei dieser Truppe. All dies passierte nur wenige Monate bevor die Corona-Pandemie in der ganzen Welt ausbrach.
In dieser Zeit kam ihm der Gedanke, die Niederlande als möglichen Ziel- und Heimatort zu erwägen. Zwei Schauspieler in der Gruppe waren Holländer. Sie brachten ihm ihre Kultur näher und brachten ihn dazu, die Niederlande auf einer tieferen Ebene zu betrachten. Aber als die Pandemie dann alles stilllegte, steckte er in Beirut bis zum Ende des Jahres 2021 fest, als die Stadt plötzlich von Unruhen erschüttert wurde. Es gab eine Schießerei. Er war erschöpft und dachte sich: es reicht
“Werde ich ein Opfer sein?” fragte sich Khalid, oder würde er die Gelegenheit ergreifen, in diesem Moment das Land zu verlassen. Er sprach mit seinen Eltern und erklärte seinen Plan, dass er beabsichtigte, nach Europa zu gehen, um dort ein besseres Leben zu finden. Sie zeigten sich einverstanden und griffen ihm finanziell unter die Arme so gut sie konnten. Seine Mutter steuerte eine kleine Sammlung von Goldarmbändern bei, die er verkaufen konnte, sein Vater gab ihm ein bisschen Bargeld.
Am 26. Oktober 2021 beantragte er ein Touristenvisum für Weißrussland im weißrussischen Konsulat in Beirut. Während der Antrag im Konsulat bearbeitet wurde, machten Khalid und ein paar Freunde, die mit ihm reisen wollten, einen Covid-Test, den sie brauchten, um nach Weißrussland einreisen zu dürfen. Kurz darauf kamen die negativen Testergebnisse, und am 6. November 2021 wurde Khalids Antrag genehmigt.
Am 8. November 2021 flog er mit Belavia Air von Beirut nach Minsk in Weißrussland. Unter normalen Umständen wäre der Flug relativ preiswert gewesen, um die 200 Dollar, aber Khalids Ticket kostete 1.600 Dollar, weil die Route plötzlich seltener beflogen wurde. Alle anderen Flüge waren abgesagt worden, weil die Anzahl der Migranten aus der Region plötzlich zugenommen hatte. Die EU übte Druck aus, sagte er, und zwang Minsk dazu, die Genehmigung von Touristenvisa zu stoppen. Er bezahlte sein Ticket mit Bargeld, und er hatte Glück mit seinem Timing. Wenig später wurden alle Anträge abgelehnt. Der Flug startete um Mitternacht und war der letzte Flug von Beirut nach Minsk für Passagiere im Besitz eines Touristenvisums.
Sein erstes Hindernis kam aber sofort am nächsten Morgen, bei der Passkontrolle. Er wurde aufgehalten, da er keinen Verlängerungsstempel in seinem syrischen Pass hatte. Er hatte zwar gewusst, dass er diesen brauchen würde, aber er hatte diesen Schritt wegen der hohen Kosten hinausgeschoben. Der Stempel kostete 200 US-Dollar pro Jahr, aber Khalid verdiente weniger als 300 US-Dollar pro Monat. Deshalb konnte er sich diesen Luxus nicht leisten. An der libanesischen Passkontrolle hatte man ihm das so erklärt: er konnte die Gebühr sofort bezahlen, oder ohne Bezahlung abreisen, dafür aber nie wieder in den Libanon zurückkommen dürfen. Seiner Meinung nach war das Wucher und er weigerte sich, die Gebühr zu bezahlen. Erst wenn sein Vater den Libanon verlassen würde, könnten sie sich wiedersehen.
“Jetzt haben wir wirklich ein Problem hier”, sagte Khalid.
Als er in Weißrussland am 9. November 2021 ankam, buchte er sofort ein Pauschalangebot für Touristen, damit man ihn als normalen Reisenden einschätzte. Dieser Schritt war auch praktisch. Er brauchte eine Unterkunft, und das Hotelzimmer hatte er damit mitgebucht. Er fuhr sofort in sein Hotel um sich auszuruhen und blieb den ganzen Tag auf seinem Zimmer. “Es ging mir dreckig”, sagte Khalid.
Er machte keine Touren, denn es lastete auch ein großer Druck auf ihm, weil er der einzige in der Gruppe war, der Englisch konnte. Er bekam die Aufgabe, zu reden, zu übersetzen, den Weg mit Navigation zu finden, oder Karten zu lesen. Als er die Lobby des Hotels betrat, hörte er einmal eine lautstarke Diskussion auf Arabisch. Alle kamen zielstrebig auf ihn zu, baten ihn um eine Zigarette oder machten Smalltalk, aber eigentlich waren es Schleuser, die Transit durch Europa anboten. Er war überfordert, eingeschüchtert und brauchte wirklich Hilfe.
“Deshalb liebe ich TikTok”, sagte er. Er ist dort sehr aktiv und hat eine beeindruckende Anzahl von Followern, die seine systemkritischen Videos anschauen (mehr als 127.000 zur Zeit der Veröffentlichung). Es gab einige Posts, die ihn überzeugten, dass es auch ohne Schleuser gehe. Man schafft es selber, wurde gesagt, nur mit einigen Helfern. Durch die Empfehlung eines Freundes kam daher eine Verbindung mit so einem unabhängigen Mann zustande. Sein Freund hatte selbst vor ein paar Monaten bereits die Dienste dieses Mannes in Anspruch genommen. Dazu gehörten Transit, Hotels und andere Grundbedürfnisse.
Khalid verbrachte vier Tage in Minsk. Die Tourgruppe übte Druck auf ihn aus, an den Aktivitäten teilzunehmen. Das brachte Khalid zu dem Entschluss, zu gehen. “In dem Moment habe ich meinen Anzug angezogen”, sagte Khalid. Und dann ging er.
Der Taxifahrer, den er gefunden hatte, hat die Fahrkosten extra in die Höhe geschraubt, da er wusste, dass Khalid und seine Freunde alle Migranten waren. Die Fahrt hätte, laut Khalid, eigentlich 100 Rubel (also ca. 40 US-Dollar) kosten sollen, aber der Fahrer verlangte mehr als das Doppelte, 240 Rubel (ca. 100 US-Dollar). Eine Menschenmenge begann sich um sie herum zu versammeln, aufgrund dieser weit hörbaren Verhandlungen, was Khalid dazu brachte, den Wucherpreis zu bezahlen, da er die Aufmerksamkeit der Behörden fürchtete. Am 13. November 2021, um 20:00 Uhr, fuhren sie also zu siebt los, in einem Wagen, der eigentlich nur fünf Fahrgästen Platz bot, aus Minsk weg mit dem Ziel Brest.
Zwölf Kilometer vor der polnischen Grenze setzte der Taxifahrer Khalid und die anderen Passagiere ab. Er weigerte sich, weiterzufahren, da das Militär sein Auto beschlagnahmen würde, wenn er von ihnen erwischt würde.
Es war sehr spät, wahrscheinlich schon nach Mitternacht, als sie alle aus dem Fahrzeug ausstiegen und in der Dunkelheit zu Fuß weiter liefen. Die Gruppe fand ein Gebüsch, wo sie sich umziehen konnten. Sie aßen etwas, setzten die Route per GPS und planten ihre nächsten Schritte. Es war draußen kalt und nebelig. Sie mussten sich auf das Handy verlassen, um in die richtige Richtung zu laufen. Khalid hatte seinen Anzug an, aber der war zu dem Zeitpunkt von mehreren Jacken bedeckt, weil es so kalt war. Sie wollten sich an einem Lagerfeuer wärmen, aber es war zu riskant, denn der Rauch oder die Flammen würden ihren Standort preisgeben.
Sie gingen zu Fuß ganze fünf Stunden lang in der sicheren Dunkelheit des Waldes, abseits von den Straßen. Sie pausierten nicht länger als fünf Minuten, um keine Zeit zu verlieren, und kamen bald auf einen Kilometer an die polnische Grenze heran. Sie waren gut vorbereitet, mit Werkzeugen in ihren Rucksäcken, um den Zaundraht durchzuschneiden, oder irgendwelche anderen Hindernisse zu überwinden. Aber auf dem Weg riet man ihnen, das nicht zu tun, weil sie wegen Sachbeschädigung bestraft werden könnten, wenn sie dabei erwischt würden. “Sie haben Hunde”, sagte Khalid und wollte damit die Angst andeuten, die sie vor der Grenzpolizei hatten. Letztendlich liefen er und seine Freunde ohne diese Werkzeuge weiter.
Am nächsten Tag, dem 14. November 2021, schliefen sie auf dem Boden in Schlafsäcken. Als es dunkel wurde, standen sie auf, um sich dem Grenzzaun zu nähern. Jetzt kam’s drauf an!
Er näherte sich einer Reihe von Zäunen, es gab insgesamt drei davon, ein paar Meter voneinander entfernt. Er schaffte es bis zum zweiten Zaun, da ging plötzlich der Alarm los. Der Zaun vibrierte.
“Ich hatte das Gefühl, dass etwas wirklich Schlimmes passieren würde. Wie in einem Hollywood-Film”, sagte Khalid, er konnte sich die dazu passende Filmmusik vorstellen.
Die anderen in seiner Gruppe standen noch ein paar Meter hinter ihm, am ersten Zaun. Eine Straße für Militärfahrzeuge verlief zwischen dem zweiten und dem dritten Zaun, und dort hörte er die heranfahrende Grenzpolizei. Er erspähte einen Kampfhund in einem der Wagen. Khalid bewegte sich nicht vom Fleck und wartete darauf, dass die Grenzwächter langsam zu ihm kommen würden.
“Das waren die längsten zehn Minuten meines Lebens”, sagte Khalid über diesen Moment. Zwei Soldaten sprangen aus dem Laster und “befahlen meinen Freunden sofort die Hände hoch zu nehmen.”
“Ich sagte ihnen auf Englisch, dass wir uns stellen wollten”, wiederholte er, “damit sie kapierten, dass wir keine Schwierigkeiten machen wollten.” Die Soldaten hatten dabei ihre Waffen auf ihn gerichtet.
Ein Walkie-Talkie gab ein Geräusch von sich. Ein Zwischenfall an einer anderen Stelle des Zaunes - noch mehr Migranten, die rüber wollten. Der Laster fuhr davon. Ein Soldat blieb zurück, bei Khalid und seinen Freunden.
“Wer ist euer Anführer?” fragte der Soldat.
Khalid hob seine Hand. Man sagte ihm, er solle für den Rest der Gruppe dolmetschen. Der Soldat tastete ihn ab und durchsuchte alle Jacken- und Hosentaschen und auch seinen Rucksack. Wenn er etwas fand, was ihm gefiel, steckte er es ein - belanglose Sachen wie eine Packung Zigaretten, aber auch das Handy.
Letzteres war anscheinend Routine, da der Soldat mit jedem Handy auch den Namen der Person aufnahm und mit dem Handy abglich. Später, als Khalid und seine Freunde über die Grenze zurückgeschickt und in einem Flüchtlingslager abgesetzt wurden, bekamen sie auch ihre Handys wieder. Es war eine unauffällige, inoffizielle Sammelstelle - “einfach irgendwo im Wald”, sagte er - wo der polnische Staat wenigstens für einen Moment seiner Verantwortung aus dem Weg gehen konnte, fliehende Menschen aufzunehmen. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Nicht vor meiner Tür. Ein ganz klarer Fall von Verstoß gegen geltendes Recht.
Es war allerdings vorteilhaft, dass man Khalid und seinen Freunden ihre Handys zurückgab, und nicht nur weil das eine freundliche Geste eines Soldaten war, sondern auch weil die Handys für Flüchtlinge wie Rettungsleinen sind, mit denen sie ihren Weg finden und sich mit anderen verständigen können.
Die Grenzbeamten waren tatsächlich “sehr nett”, sagte Khalid, weil sie ihnen Wasser brachten. “Wir hatten gar kein Wasser!" warf er ein. Seit der ersten Zaunüberquerung gab es kein Wasser mehr. Die Grenzpolizisten erlaubten ihnen, ihre Zelte aufzuschlagen und schickten ein Auto mit Helfern, die für sie, gegen Bezahlung, Lebensmittel aus einem Laden im Ort in den Wald anlieferten.
“Uns wurde erlaubt, ein Feuer zu machen”, sagte Khalid, und er war froh, dass er sich endlich mal wieder aufwärmen konnte. Als er ankam, waren andere schon dabei, ein Feuer zu machen. Sie halfen uns mit unserem Lagerfeuer. So geht das. Irgendwo brennt dort immer ein Feuer. Wenn neue Gruppen ankommen, dann hilft man ihnen dabei, das Feuer anzuzünden, und immer so weiter.
Die meisten Leute gingen in den Wald und sammelten Holz vom Boden auf oder brachen Äste von den Bäumen ab. Einer von ihnen war so stark, dass er einen ganzen Baum hochhob und auf seiner Schulter ins Camp zurücktrug. Dort legte er den Baum ins Feuer. “Das war ein Herkules!” lobte Khalid.
Er bestand darauf, dass er stark und mutig genug war, um die Grenzüberquerung in dieser Nacht noch einmal zu versuchen, aber der weißrussische Soldat war anderer Ansicht. “Es ist Ihre Entscheidung”, sagte der Soldat zu Khalid, “aber ich würde Ihnen raten, hierzubleiben, zu Ihrer eigenen Sicherheit." Überall liefen in dieser Nacht Patrouillen an der Grenze entlang. Man würde ihn erwischen. Und dann kam eine Wendung!
“Sie können tun, was Sie wollen”, sagte der Soldat, “außer nach Minsk zurückkehren." Man würde Sie zurückweisen. “Das geht gar nicht!”
So befand Khalid sich hier, am Rande Weißrusslands und vor drei Zaunreihen, die den Weg nach Polen blockierten, in einer Notlage. Sicher, es gab Essen und Trinkwasser, Unterschlupf in einem Zelt, und ein wärmendes Lagerfeuer, aber es gab keinen Ausweg aus diesem improvisierten Raum. Er konnte weder nach Weißrussland zurückkehren, noch auf dem Weg nach Polen weitergehen. Die Logik einer solchen Liminalität, in der Menschen auf der Flucht sich bewegen, und die wir oft fälschlicherweise “illegal” nennen, fließt manchmal in zwei Richtungen: die, die einen nicht hereinlassen wollen, sind genauso stark wie die die, die ein Interesse daran haben, einen hinauszulassen – und somit weg von ihrer Zuständigkeit.
“Versuch es morgen nochmal“, hatte ihm der weißrussische Beamte empfohlen, den Khalid als “Gentleman und Diktator in einer Person” beschrieb, da er Khalid davon abhielt, nach Minsk zurückzukehren und ihn gleichzeitig drängte, nach Polen zu gehen. Er hatte ihm gesagt, dass er es in dieser Nacht nicht versuchen sollte. Am nächsten Tag würde er ihm eine Stelle am Grenzzaun zeigen, die nur selten kontrolliert wird.
“Man könnte sagten, dass diese Weißrussen uns dabei halfen, über die Grenze zu kommen.”
Die Leute, die nach Minsk zurückgingen, oder es überhaupt versuchten, wurden verprügelt – einige auch, wenn sie nur den Wunsch äußerten, in die weißrussische Hauptstadt zurückzukehren. Im Camp hatte er schon eine Gruppe gesehen, die von Soldaten zusammengeschlagen worden war und dann wieder im Camp abgesetzt wurde. Es gab dort keine wirkliche Freundschaft, auch wenn manchmal Mitleid angezeigt wurde oder man anderen auch mal zur Hilfe kam.
“In einer Grenzzone ist man einfach nur ein Ding.” Man wird aus allen Richtungen dahin oder dorthin gedrückt, immer hin und her. “Das ist meine Meinung. Du bist eine Ware, die man verkaufen und zu Geld machen kann.”
Über hundert Menschen befanden sich in dieser Nacht an dieser Stelle im Wald, und alle fragten sich, wohin der Wind sie als nächstes tragen würde. Familien, Kinder – “Kinder haben da im Wald gespielt” erzählte er – sie waren alle an einem Ort versammelt und alle suchten nach einer Überlebenstechnik in der kalten Nacht.
Khalid und seine Freunde stellten Zelten in der Nähe des Lagerfeuers auf, weil sie gehört hatten, dass es vielleicht regnen würde. Sie rollten ihren Schlafsäcke aus und schliefen ein. Zum Glück gab es in der Nacht nur ein bisschen Nieselregen. Als er aufwachte, gab es wieder mal die kalorienreichen Schokoriegel zum Frühstück, die er immer zu sich nahm, um zu überleben.
Er hatte den Verdacht, dass die Weißrussen die Handys konfisziert hatten, um ein Trackingsystem zu installieren, damit die Soldaten sie finden könnten, falls sie nach Minsk zurückkehren würden. Ob dem so war, konnte er nicht mit Gewissheit sagen, aber allein der Gedanke daran wirkte abschreckend. 21 Menschen erhielten ihre Handys zurück, als die Soldaten am Morgen des 15. November 2021 ankamen. Es wurde angekündigt, dass man Laster kurz nach Einbruch der Dunkelheit vorbeischicken würde, um sie zu einem sicheren Durchschlupf an der Grenze zu bringen.
Khalids Freunde konnten es nicht glauben. Sie stimmten ab und die Mehrheit stimmte dagegen. Sie hatten einfach zu viel Angst davor, dass die Soldaten ihr Versprechen nicht halten würden und dass man sie stattdessen in ein anderes Lager bringen würde, um sie den Fotografen und Journalisten vorzuführen, die dort stationiert waren, um über die Flüchtlingssituation zu berichten. Durch so eine Showeinlage würden sie nur wieder mehr Zeit verlieren.
“Wir entschlossen uns loszugehen”, sagte Khalid. Sie würden in dieser Nacht allein rübergehen. Sie hatten ihre Handys wieder und benutzten Google Maps um ihre Position zu finden und sahen dann auch eine Stelle an der polnischen Grenze, nur einen Kilometer entfernt, wo sie versuchen konnten, rüberzukommen.
21 Uhr. Sie packten ihre Sachen, machten einander Mut und schlüpften aus dem Camp.
“Eigentlich ist niemand da, um das Camp zu bewachen”, stellte er fest, “es ist eigentlich nur eine Art Treffpunkt.” Es war also nicht so schwierig, einen Ort zu verlassen, der nicht wirklich markiert war. Allerdings sollten seine nächsten Schritte sich als sehr schwierig entpuppen.
Irgendwo im Gebüsch rief ein Soldat etwas auf Russisch. Sie waren gesehen worden. Der motorisierte Sicherheitstrupp hatte einen Hund, einen Pitbull, den sie gleich von der Leine nehmen würden. Khalid kann kein Russisch, aber die Sprache der Gewalt ist universell. Der Soldat gab Khalid und den anderen eine Wahl: rauskommen und sich ergeben oder von dem Hund angegriffen werden.
Wir hörten nur das Wort “Hund”, spotteten sie und stolperten aus dem Gebüsch heraus, mit erhobenen Händen.
Ein bisschen Humor kann nicht schaden, wenn man dazu fähig ist, wie Khalid. Für ihn ist das glücklicherweise unvermeidbar, da ihm Tag für Tag sein Leben entglitt, in einer absurden, surrealen Art und Weise, die kaum mehr rational zu erfassen war. Wer könnte seinen Lebensweg so vorhersagen, wenn das Ziel, nach Hause zu gehen, so eine absolute Notwendigkeit darstellt? Dies, die Gewissheit, der Bedarf nach einem Zuhause, das ist für Khalid dasselbe wie für alle anderen Menschen auf der Welt, nämlich eine friedliche Heimat zu finden.
Aber es war eine neue Welt, in der er sich immer wieder rechtfertigen musste. Er konnte es einfach nicht fassen, dass dies alles ihm wirklich passierte: diese Hürden der Gewalt zu überwinden, nur um seinen Frieden zu finden.
“Seid ihr bescheuert?” fragte der weißrussische Soldat, als er sie eine Stunde später wieder auf dem Zeltplatz ablud. “Ich hab’ euch doch gesagt, dass ihr warten sollt!” Khalid entgegnete, dass er ihm nicht trauen konnte, dass seine Gruppe es sicherer fand, sich auf eigene Faust herauszuwagen.
Khalid und seinen Freunden war klar, dass es für sie ein erhöhtes Risiko gab, als sie sich der Grenze näherten. Die Lage auf der polnischen Seite war dichter und undurchdringlicher als auf der weißrussischen Seite. Khalid konnte mithören, wie die Soldaten an ihren Radios redeten. Er hörte auch das Surren der Drohnen, das Klappern der Schwermetallausrüstung - und natürlich die Hunde.
Schließlich stiegen 21 Leute in einen Bus ein, darunter auch Khalid und seine Freunde. Der Bus setzte sie nach dreißig Minuten Fahrzeit an einer Stelle ab, wo sie einfacher durchkommen könnten. Die Soldaten hatten ihre Uniformen ausgezogen und trugen jetzt Zivil, um unerkannt die heimliche Übergabe zu beaufsichtigen. Dies beweist, dass es alle Sorten von Schleusern gibt.
Khalid und seine Freunde versteckten sich noch eine Stunde in einem Gebüsch und liefen dann los. Die Gruppe teilte sich und lief in kleineren Gruppen in unterschiedliche Richtungen. Ein Mann in einer anderen Gruppe zerschnitt einen Draht am Zaun und löste damit den Alarm aus. Dadurch lenkten die polnischen Soldaten ihre Aufmerksamkeit auf diesen Teil der Grenze. Khalid und seine sechsköpfige Gruppe nutzten dieses Ablenkungsmanöver und überquerten die Grenze.
Und jetzt waren sie da, tief in einem polnischen Wald. Der Kontakt zu dem Mann, den er als unabhängigen Auftragnehmer angestellt hatte, um ihm dabei zu helfen, Osteuropa zu durchqueren, kam nicht zustande, und so musste er die Schleuser beauftragen, obwohl er gerade das vermeiden wollte. Khalid bat seinen Vater und andere Familienmitglieder um Geld. Alles für eine Anzahlung, die er leisten musste, um diesen Schlepper anzuwerben. Es sollte 3.000 US-Dollar pro Person kosten, was ihm wie ein unglaublicher Vertrauensvorschuss vorkam.
“Es ist merkwürdig, wir kennen die Person nicht, mit der wir es zu tun haben. Er benutzt einen falschen Namen, er benutzt eine falsche Nummer. Er ändert seine Nummer täglich”, sagte Khalid. Es ist, als ob man “mit einem Gespenst” spräche.
Aber das Geschäft wurde abgeschlossen, und so lief er zu dem vereinbarten Treffpunkt, etwa 20 Kilometer entfernt. Er hatte kein Trinkwasser mehr. Er hatte seit Tagen nicht geduscht. Er lief nur in der Nacht, um nicht entdeckt zu werden. Er schaltete sein Handy aus, damit es aufgeladen bliebe. Also konnte er auch die Taschenlampenfunktion nicht benutzen. Ständig schlugen ihm Ӓste ins Gesicht und in die Augen. Die einzige Erleichterung kam in Form eines Flusses. Der war zwar dunkel und schmutzig – und wer weiß, was sonst noch darin herumschwamm, aber so kam er zu seinem ersten Schluck Wasser seit langem.
Er war noch vier Stunden von seinem Hotel entfernt, als Khalid und seine Gruppe am Treffpunkt ankamen. Endlich im Hotel angekommen, löste sich die tiefe Anspannung und er empfand eine überwältigende, unbeschreibliche Erleichterung. Er drehte den Wasserhahn im Bad auf und “steckte seinen Mund darunter und trank und trank, so lange, bis ich genug hatte”, erzählt er, “es fühlte sich so an, als würde ich zum allerersten Mal Wasser trinken.”
Seit seiner letzten Dusche waren neun oder zehn Tage vergangen. Obwohl auch dieses Gefühl schwer zu übermitteln war, versuchte er es: “Diese Dusche, es kam mir vor, als wäre mir eine unglaublich schwere Last von den Schultern ganz plötzlich abgefallen.” Er sah zu, wie das Wasser aus dem Duschkopf über seinen Kopf lief und den Staub und den Schmutz von seinem Körper wusch und strudelförmig im Abfluss verschwand.
Die Schleuser hatten ihn mit einem Beutel mit den nötigsten Hygieneartikeln versorgt, darunter auch ein paar Rasierklingen. “Tatsächlich haben sich alle rasiert”, sagte Khalid. Ein gepflegtes Aussehen war notwendig, um unter Leuten nicht aufzufallen.
“Verstehen Sie jetzt, wie diese Menschen ticken?” fragte Khalid. “Die denken an jedes kleinste Detail. Es ist verrückt, aber für diese Menschen ist das ja auch eine Art von Beruf.”
Der Schlepper hat Interesse daran, dass die Reise nach Europa erfolgreich agebschlossen wird, wegen der Bezahlungsstruktur. Khalid erklärte, dass der Schlepper nicht sofort Zugriff auf die Anzahlung von 3.000 US-Dollar hat, sondern dass das Geld erst überwiesen wird, wenn die einzuschleusende Person auch an seinem oder ihrem Ziel eintrifft. “Sie dürfen das Geld nicht nehmen, auch nicht wenn ich sterbe, oder mir sonst irgendetwas zustößt. Sie kommen erst an das Geld dran, wenn ich mich melde und durchgebe, dass ich an diesem Ort eingetroffen bin, dass ich jetzt in Deutschland bin… Deshalb kümmern sie sich um die kleinsten Details.”
Khalid wollte sich so gern in ein Bett legen und ausschlafen, aber es gab keine Zeit zum Entspannen. Er blieb nur sechs Stunden in dem Hotel und setzte sich dann wieder in Bewegung. Um 20 Uhr kam ein Taxi zum Hotel, um ihn nach Deutschland zu bringen. Der Fahrer sagte ihm zu, ihn bis an die Grenze zu bringen, wollte aber nicht selbst über die Grenze fahren. Die Fahrt dauerte acht Stunden. Khalid stieg aus, schlug die Tür zu und klappte sein Handy auf, weil er diesen Moment unbedingt festhalten wollte, wie die vielen anderen Stationen auf Wanderung. Er machte ein Video auf der Brücke, von seinen ersten Schritten in Deutschland, in der östlichen Grenzstadt Frankfurt an der Oder.
Es war nur ein kurzer Aufenthalt. Er fuhr sofort weiter nach Berlin, das zirka 2 Stunden Fahrzeit westlich von der Grenze liegt. Er war von dieser Stadt überwältigt, als er ankam. Jetzt war er endlich dort, nachdem er bislang nur Fotos im Internet oder auf seinem Handy von dieser weltbekannten Stadt gesehen hatte.
“Alle rannten durch die Gegend, mit sich selbst beschäftigt, alles erschien mir hektisch”, sagte Khalid, als er inmitten der Berliner Menschenmassen stand. Einige Menschen antworteten ihm einfach nicht, wenn er auf Englisch um Hilfe bat, sogar bei der Auskunft im Bahnhof. “Der Berliner Hauptbahnhof, der ist größer als der Flughafen in meinem Land”, sagte er. Schließlich kaufte ihm ein Freund, der in Bochum lebte, eine Fahrkarte. Er kam sich ziemlich verloren vor. Er verstand nicht, wie das Bahnfahren funktionierte, da er kein Wort Deutsch sprach und zum ersten Mal in Deutschland war.
Außerdem hatte er Hunger. Wegen der Corona-Regeln konnte er nirgendwo ein Restaurant finden, wo er sich hinsetzen und etwas bestellen konnte. Er eilte zum nächstbesten Imbiss und bestellte sich ein Chicken Sandwich zum Mitnehmen. Er stand irgendwo draußen auf der Straße und verschlang sein warmes Sandwich. “Das war das beste Chicken Sandwich meines Lebens”, sagte er. Gut gesättigt konnte er jetzt die nächste Aufgabe in Angriff nehmen und fand den Zug nach Bochum. Dort würde er nur kurz bei seinem Freund bleiben. Er hatte ihn vor sieben Jahren zuletzt in Syrien gesehen.
Er blieb erstmal in der Wohnung seines Freundes, machte es sich auf der Couch bequem und sah sich mehrere Filme an. Obwohl er davor Angst hatte, nach draußen in die Öffentlichkeit zu gehen, erkundete er doch die Stadt ein wenig. “Es ist merkwürdig”, sagte er. “Ich spürte eigentlich keine Gastfreundschaft, da niemand mit mir auf Englisch reden wollte.”
Nur eine Frau zeigte sich bereit, mit ihm Englisch zu reden, und das passierte eigentlich auch nur, weil er ihr anbot, ihr beim Tragen einer schweren Tasche zu helfen. Es war höchst verwirrend und beunruhigend, die Reaktionen der Menschen dort zu sehen. In Berlin warf eine Frau ihm an den Kopf, dass er mit seinem roten Schlips und seinem feinen Anzug schräg aussehe, wie ein russischer Oligarch. In Bochum nahmen die Leute an, dass er Türke sei, wegen seiner dunklen Haare, und sprachen Türkisch mit ihm, was natürlich nicht funktionierte.
“Wenn ich es auch nur wegen einer Lappalie mit der Polizei zu tun bekäme, würde man mich festnehmen und in Deutschland festhalten –und das wollte ich auf gar keinen Fall”, sagte er. Er hatte eine paranoide Angst davor, sich auf die Straße zu begeben. In Bochum schlief er auf einer seiner Zugfahrten ein, im Anzug. An der Endstation kamen zwei Polizeibeamten auf ihn zu, um ihm zu sagen, dass er jetzt aussteigen müsse. Er tat so, als wäre er in Eile, warf einen Blick auf seine (kaputte) Armbanduhr und sagte: “Heiliger Bimbam, ich komme zu spät zu einem wichtigen Termin!” und stürzte davon. “Das hat nur wegen des Anzugs geklappt.”
Am 19. November 2021 fuhr Khalid mit der Bahn von Bochum nach Aachen, einer Kleinstadt in der Nähe der belgischen und der niederländischen Grenzen. Er hatte schon im Internet nachgesehen, wie es weitergehen sollte. “Die Gerüchte sind schlimm. Irgendjemand hat behauptet: Wenn du mit der Bahn von Bochum nach Holland fährst, dann wirst du an der Grenze kontrolliert, und dann schicken sie dich zurück nach Deutschland”, sagte er. “Deshalb habe ich mich entschieden, zu Fuß über die holländische Grenze zu gehen.”
Um 9 Uhr morgens traf er im Aachener Bahnhof ein, stieg aus der Bahn aus und lief los. Obwohl es nur 40 Minuten dauerte, die niederländische Grenze zu erreichen, wusste er, dass er noch einen langen Weg vor sich hatte. Dennoch freute er sich riesig, als er holländischen Boden betrat. Er rief seinen Vater an und dankte ihm für seine Unterstützung. Obwohl er vollkommen erschöpft war, blickte er in diesem Moment in eine Zukunft mit unbegrenzten Möglichkeiten.
Die nächste Polizeidienststelle, laut Google, war 50 Kilometer entfernt, in der südholländischen Stadt Maastricht. Er hatte Bargeld dabei, aber man kann für die öffentlichen Verkehrsmittel in Holland nur E-Tickets kaufen. Er flehte die Busfahrer an, ihn gegen Bargeldzahlung mitzunehmen, aber er wurde abgewiesen – Firmenregel. “Aber ich war glücklich. Das hat mich nicht gestört”, sagte er. Er war ja jetzt in diesem schönen Land und fast an seinem Ziel angekommen.
Es war fast komisch, wie auf den letzten Metern seiner langen Reise ein Hindernis nach dem anderen auftauchte. Die SIM-Karte auf seinem Handy war leer, daher konnte er sich kein Taxi oder einen anderen Fahrservice bestellen. Plötzlich hatten seine Schuhe zwei Löcher. Diese Schuhe hatte er schon am Anfang, in Weißrussland und im polnischen Wald. “Ich bin von 11 Uhr morgens bis 8 Uhr abends gelaufen”, erzählte er. “Ich habe mir nur ganz kurze Pausen gegönnt. Wenn ich mich länger hingesetzt hätte, hätte ich starke Schmerzen in den Füßen bekommen.”
Seine erste niederländische Stadt war Vaals, ganz im Südosten des Landes, kurz hinter der Grenze. Er sah sich die Landschaft an, als er ankam. Er sah grasende Kühe, erzählte er. “Ich merkte, wie schön es hier war.” Um 20 Uhr, als es dunkel wurde, erreichte er den Bahnhof von Maastricht. In einem Restaurant bestellte er sich 5 Sandwiches, ausgehungert wie er war. Er wählte sich in das WLAN im Bahnhof ein und nahm Kontakt mit einem Freund auf, der ihm dann online eine Fahrkarte kaufte.
Der Rest ging schnell.
Von Maastricht fuhr er mit dem Zug nach Amsterdam. Dort übernachtete er bei einem Freund. Am nächsten Tag, dem 20. November 2021, ging er zur Polizeidienststelle. “Ich bin zum ersten Mal bei der Polizei gewesen, ohne Angst zu haben”, sagte er. “Gar keine Angst. Ich war so davon geschockt, dass ich wie ein kleines Baby geweint habe.”
Die Polizei nahm seinen Pass und drückte ihm eine Fahrkarte in die Hand. Damit sollte er nach Osten fahren zu einer Erstaufnahmestelle. Wie schon in Deutschland, wusste er nicht wohin. Doch er fragte nach dem Weg, auf Englisch.
Es überraschte ihn, dass “alle so freundlich zu mir waren, mich anlächelten. Alle sprachen Englisch, alle sind - es ist, als ob man in eine andere Welt käme, wenn man von Deutschland nach Holland geht.”
“Deshalb liebe ich dieses Land,” sagte Khalid. “Es sind die Menschen. Die Menschen machen alles gut.”
Er fuhr mit dem Zug von Amsterdam nach Emmen. Er fuhr mit dem Bus von Emmen zum Camp in Ter Apel und beantragte dort am 20. November 2021 Asyl bei der niederländischen Einwanderungsbehörde, der IND.
Er ist jetzt 26 Jahre alt und lebt in Waddinxveen in Holland. Wir nahmen seine Geschichte am 13. Mai 2022 in seiner ehemaligen Unterkunft auf, einer Aufnahmeeinrichtung für Männer in einer umfunktionierten Messehalle neben der TT Circuit, einer Motorsport-Rennstrecke in Assen, und dann am 3. März 2023 in Waddinxveen.
Khalid ist ein erstaunlicher Mensch.